Vertrauen – Der unsichtbare Baustein erfolgreicher Teams
- Anna Smesny

- 8. Okt.
- 8 Min. Lesezeit
Die Anfrage kam von einer Führungskraft: „Können Sie uns unterstützen? In meinem Team ist etwas passiert, das wir nicht mehr allein eingefangen bekommen."
Sie schilderte mir die Situation: Bei einem wichtigen Projekt war ein Fehler unterlaufen, der das Team mehrere Tage Arbeit gekostet hatte. Danach kippte die Stimmung: In den Teambesprechungen wurde es auffällig still, Beiträge blieben knapp. Manche hielten sich komplett zurück, andere betonten immer wieder, dass sie „ihren Teil erledigt" hätten. Einzelne kamen direkt zur Führungskraft: „So macht das keinen Sinn mehr" oder „Mit XY kann ich gerade nicht arbeiten."
Als ich ins Team kam, fiel mir sofort auf, wie dünn die Luft war. In einer kurzen Runde sah ich verschränkte Arme, ausweichende Blicke, einsilbige Antworten. Wenn jemand einen Vorschlag machte, folgte fast automatisch ein „Ja, aber …".
Was hier passiert war, sieht man täglich in Unternehmen: Ein Team hatte sein Vertrauen verloren. Aber wie entsteht Vertrauen eigentlich? Und noch wichtiger: Wie kann man es zurückgewinnen?
Die Wissenschaft hinter dem Vertrauen
Vertrauen ist weit mehr als ein „gutes Gefühl" zwischen Menschen. Es ist ein komplexer neurobiologischer und psychologischer Prozess, den die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten intensiv erforscht hat.

Wie Vertrauen entsteht – Die biologischen Grundlagen
In unserem Gehirn spielt das Hormon Oxytocin eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Vertrauen. Dieses „Bindungshormon" wird bei positiven sozialen Interaktionen freigesetzt – bei einer Umarmung, einem ehrlichen Gespräch oder sogar bei Augenkontakt. Eine wegweisende Studie von Paul Zak aus dem Jahr 2005 zeigte: Menschen, denen Oxytocin verabreicht wurde, waren deutlich bereitwilliger, anderen zu vertrauen und sich verletzlich zu zeigen.
Was bedeutet das für den Arbeitsalltag? Vertrauen entsteht nicht durch große Gesten, sondern durch kleine, alltägliche Momente der menschlichen Verbindung. Ein ehrliches „Wie geht es dir?" am Montagmorgen kann mehr bewirken als das beste Teambuilding-Event.
Die Wurzeln reichen tief
Die Bindungstheorie von John Bowlby und Mary Ainsworth erklärt, warum manche Menschen leichter vertrauen als andere. Bereits in den ersten Lebensjahren entwickeln wir ein „inneres Arbeitsmodell" von Beziehungen, basierend darauf, wie verlässlich und fürsorglich unsere ersten Bezugspersonen waren. Diese frühen Erfahrungen prägen uns ein Leben lang – auch in unserem beruflichen Umfeld.
Das bedeutet nicht, dass Menschen mit schwierigen frühen Erfahrungen zum Misstrauen verdammt sind. Es erklärt aber, warum Vertrauen für manche ein größerer Schritt ist und warum es umso wichtiger ist, im Team bewusst vertrauensvolle Strukturen zu schaffen.
Die drei Säulen des Arbeitsvertrauens
Vertrauen in Teams funktioniert anders als in privaten Beziehungen. Die Forschungsarbeit von Roger C. Mayer und seinem Team identifizierte drei entscheidende Dimensionen:
1. Kompetenz: Kann ich mich darauf verlassen, dass meine Kollegin die erforderlichen Fähigkeiten besitzt, um ihre Aufgaben zu erfüllen? Versteht sie, wovon sie spricht?
2. Verlässlichkeit: Hält sie ihre Versprechen? Handelt sie moralisch integer und transparent? Kann ich ihre Aussagen für bare Münze nehmen?
3. Wohlwollen: Hat sie auch meine Interessen im Blick? Oder verfolgt sie nur ihre eigenen Ziele, möglicherweise auf meine Kosten?
Interessant ist: Alle drei Säulen müssen stehen. Es genügt nicht, wenn jemand fachlich brillant ist, aber unzuverlässig. Oder wenn jemand mir wohlgesinnt ist, aber schlichtweg nicht die nötigen Kompetenzen mitbringt.
Fehlt eine Säule, gerät das Fundament ins Wanken.
Wenn Vertrauen im Team fehlt – Die versteckten Kosten
Das Team aus meiner Eingangssituation ist kein Einzelfall. Studien zeigen, dass mangelndes Vertrauen massive Auswirkungen hat:
Reduzierte Leistung: Teams mit niedrigem Vertrauen sind nachweislich weniger produktiv. Energie fließt in Kontrolle und Absicherung statt in die eigentliche Arbeit.
Weniger Innovation: In misstrauischen Umgebungen trauen sich Menschen nicht, neue Ideen zu äußern oder Risiken einzugehen. Die Angst vor Fehlern lähmt die Kreativität.
Höhere Fluktuation: Mitarbeitende in vertrauensarmen Teams kündigen häufiger. Die emotionale Belastung wird irgendwann zu groß.
Schlechte Kommunikation: Information wird zurückgehalten, wichtige Themen werden nicht angesprochen, Probleme schwelen unter der Oberfläche.
Psychologische Sicherheit als Fundament

Amy Edmondson von der Harvard Business School prägte den Begriff der „psychologischen Sicherheit" – das Gefühl, Risiken eingehen zu können, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen. Ihre Forschung begann mit einer verblüffenden Entdeckung: Teams in Krankenhäusern, die mehr Fehler berichteten, hatten nicht etwa schlechtere Ärzte – sie hatten ein Umfeld, in dem es sicher war, über Fehler zu sprechen.
Psychologische Sicherheit: So wirkt sie im Team
Teams mit hoher psychologischer Sicherheit zeigen bemerkenswerte Eigenschaften:
Sie sprechen Probleme früh an, bevor sie eskalieren
Sie lernen schneller aus Fehlern
Sie entwickeln innovative Lösungen
Sie unterstützen sich gegenseitig aktiv

Der Weg zurück: Vertrauen wiederherstellen
Zurück zu dem Team, das mich um Hilfe gebeten hatte. Wie findet man den Weg zurück, wenn das Vertrauen einmal zerbrochen ist?
Die Forschung zeigt: Vertrauenswiederherstellung ist möglich, aber sie erfordert einen systematischen Ansatz. Es reicht nicht, einmal „Sorry" zu sagen oder ein Teambuilding-Event zu organisieren. Vertrauen wird in kleinen Schritten wieder aufgebaut – durch Konsistenz, Transparenz und vor allem durch die Bereitschaft der Führungskraft, Verantwortung zu übernehmen.
Der erste und entscheidende Schritt ist immer, den Vertrauensbruch offen anzusprechen und die eigene Rolle darin einzugestehen. Studien von Dirks & Ferrin zeigen: Die Bereitschaft, Fehler zuzugeben und sich zu entschuldigen, wird als starkes Signal für Integrität wahrgenommen.
Dann folgt die eigentliche Arbeit: Transparenz im Alltag leben, Versprechen einhalten und vor allem – ein Umfeld schaffen, in dem es sicher ist, verletzlich zu sein.
Ein weiterer, oft übersehener Aspekt:
Vertrauen entsteht nicht, wenn der Fokus dauerhaft auf Aufgaben, Zielen und Inhalten liegt. Es wächst dort, wo Menschen einander wirklich begegnen – jenseits der Funktion. Wenn jedes Gespräch durchgetaktet ist und Zeit zum Innehalten fehlt, bleibt kein Raum, in dem Verbindung entstehen kann. Teams, die Raum für informellen Austausch schaffen – beim Kaffee, im Check-in oder auf dem Flur – investieren damit in die Grundlage ihrer Zusammenarbeit. Führung heißt auch, diesen Raum bewusst zu schützen.
„Vertrauen entsteht in kleinen, alltäglichen Momenten" – Brené Brown
Das B.R.A.V.I.N.G.-Modell: Die sieben Bausteine des Vertrauens
Aber wie macht man Vertrauen greifbar? Wie kann ein Team konkret daran arbeiten? Brené Brown, die renommierte Vertrauensforscherin, hat dafür ein praktisches Modell entwickelt: B.R.A.V.I.N.G. Diese sieben Buchstaben stehen für die Grundpfeiler jeder vertrauensvollen Beziehung – auch im beruflichen Kontext.
B - Boundaries (Grenzen)
Was es bedeutet: Klare Grenzen setzen und die Grenzen anderer respektieren. Wissen, was in Ordnung ist und was nicht.
Praxisbeispiel: Eine Teamleiterin sagt: „Ich bin nach 18 Uhr nur in Notfällen erreichbar" – und hält sich daran. Gleichzeitig respektiert sie, wenn ein Mitarbeiter sagt: „Freitagnachmittag ist mein kreativer Block, da möchte ich nicht gestört werden."
R - Reliability (Verlässlichkeit)
Was es bedeutet: Tun, was man sagt. Sich der eigenen Kompetenzen bewusst sein und nur das versprechen, was man auch halten kann.
Praxisbeispiel: Statt zu sagen „Mache ich diese Woche", ehrlich einschätzen: „Das schaffe ich bis Donnerstag nächste Woche." Kleine Versprechen einzuhalten wiegt oft schwerer als große Gesten.
A - Accountability (Verantwortung)
Was es bedeutet: Eigene Fehler zugeben, sich entschuldigen und Wiedergutmachung leisten.
Praxisbeispiel: „Ich habe den Deadline übersehen und dadurch euch allen Mehrarbeit beschert. Das tut mir leid. Was kann ich jetzt konkret tun, um zu helfen?"
V - Vault (Vertraulichkeit)
Was es bedeutet: Vertrauliche Informationen für sich behalten – und nicht über andere sprechen, wenn sie nicht da sind.
Praxisbeispiel: Wenn ein Kollege persönliche Herausforderungen anvertraut, diese Information nicht weitererzählen. Auch nicht mit der besten Absicht.
I - Integrity (Integrität)
Was es bedeutet: Mut über Bequemlichkeit stellen. Das Richtige tun, auch wenn es unbequem ist. Die eigenen Werte leben, nicht nur behaupten.
Praxisbeispiel: Den Mut haben zu sagen: „Ich glaube, wir machen einen Fehler, auch wenn alle anderen zustimmen" oder „Das entspricht nicht unseren vereinbarten Qualitätsstandards."
N - Non-judgment (Urteilsfreiheit)
Was es bedeutet: Ein Umfeld schaffen, in dem Menschen um Hilfe bitten können, ohne verurteilt zu werden.
Praxisbeispiel: Wenn jemand sagt „Ich verstehe das nicht", mit Erklärungen helfen statt mit Augenrollen zu reagieren. „Dumme Fragen" gibt es nicht.
G - Generosity (Großzügigkeit)
Was es bedeutet: Die Handlungen und Absichten anderer großzügig interpretieren. Vom Besten ausgehen, nicht vom Schlimmsten.
Praxisbeispiel: Wenn eine E-Mail knapp oder schroff wirkt, erst nachfragen: „Wie geht es dir gerade?" statt sofort anzunehmen, dass der andere schlecht gelaunt oder unfreundlich ist.
Die drei wichtigsten Sofort-Tipps für Führungskräfte
Amy Edmondson identifizierte drei konkrete Verhaltensweisen, die Führungskräfte sofort umsetzen können, um psychologische Sicherheit und damit Vertrauen zu schaffen:
1. Die Arbeit als Lernproblem definieren
Statt: „Das müssen wir fehlerfrei hinbekommen." Besser: „Das ist Neuland für uns. Wir werden experimentieren und dabei lernen."
Diese Haltung nimmt den Perfektionsdruck heraus und macht Fehler zu einem natürlichen Teil des Arbeitsprozesses. Teams trauen sich dann eher, Risiken einzugehen und innovative Lösungen zu entwickeln.
2. Die eigene Fehlbarkeit eingestehen
Statt: Als Führungskraft alle Antworten haben zu müssen. Besser: „Ich bin mir nicht sicher. Was denkst du?" oder „Ich könnte hier falsch liegen."
Wenn die Führungskraft Verletzlichkeit zeigt, signalisiert sie: Es ist sicher, nicht alles zu wissen. Das ermutigt das Team, ebenfalls offen mit Unsicherheiten umzugehen.
3. Neugier vorleben und Fragen stellen
Statt: Anweisungen zu geben. Besser: „Wie siehst du das?" oder „Welche Bedenken hast du?"
Durch aktives Nachfragen zeigt die Führungskraft echtes Interesse an den Perspektiven der anderen. Das macht es sicherer, auch kritische Meinungen zu äußern.

Checkliste: Vertrauens-Check für Ihr Team
Selbstreflexion für Führungskräfte:
Transparenz: Erkläre ich wichtige Entscheidungen nachvollziehbar?
Verlässlichkeit: Halte ich auch kleine Versprechen ein?
Offenheit: Gebe ich eigene Unsicherheiten und Fehler zu?
Fairness: Behandle ich alle Teammitglieder gleich?
Interesse: Frage ich aktiv nach Meinungen und Bedenken?
Teamebene beobachten:
Kommunikationsqualität: Sprechen Teammitglieder offen über Probleme?
Fehlerkultur: Werden Fehler als Lernchance gesehen oder versteckt?
Feedback: Gibt es regelmäßiges, konstruktives Feedback?
Unterstützung: Helfen sich Kollegen gegenseitig?
Innovation: Werden neue Ideen geteilt und ausprobiert?
Impuls-Fragen für die Reflexion
Für Führungskräfte:
Wann haben Sie zuletzt eine wichtige Entscheidung vollständig transparent erklärt – inklusive der Unsicherheiten?
Wie reagieren Sie instinktiv, wenn ein Teammitglied einen Fehler macht? Mit Problemlösung oder mit Schuldzuweisung?
Was hindert Sie persönlich daran, eigene Unsicherheiten zu zeigen?
Bei welchen kleinen Versprechen sind Sie in letzter Zeit nachlässig geworden?
Wo haben die Mitglieder ihres Teams Gelegenheit sich informell zu begegnen und auszutauschen?
Für Teams:
Wo spüren Sie Misstrauen in Ihrem Team am deutlichsten? Was sind die konkreten Anzeichen?
Welche kleinen, alltäglichen Schritte könnten das Vertrauen in Ihrem Team stärken?
Wer in Ihrem Umfeld ist ein Vorbild für vertrauensvolles Verhalten? Was macht diese Person anders?
Wann haben Sie zuletzt bewusst großzügig über die Intention eines Kollegen gedacht?
Der Wendepunkt: Wenn Teams den Weg zurück finden
Zurück zu dem Team, das mich um Hilfe gebeten hatte. Was passierte in den folgenden Tagen?
Nach zwei Tagen zeigte sich ein anderes Bild. Die Teammitglieder hatten die Gelegenheit, Konflikte offen anzusprechen, Perspektiven zu wechseln und die Vertrauensbrüche zu benennen. Kleine Übungen halfen ihnen, sich wieder als Gruppe wahrzunehmen: Schultern entspannten sich, Blicke trafen sich wieder, und es entstand ein vorsichtiges Lächeln in den Gesprächen. Ich begleitete den Prozess und gab Impulse, wie Feedback konstruktiv formuliert werden kann. Am Ende legten sie fest, wie sie künftig zusammenarbeiten: kurze Check-ins zur Arbeitslast, Rückmeldungen direkt in Ich-Botschaften und das klare Commitment, Konflikte sofort anzusprechen.
Einige Wochen später berichtete die Führungskraft: „Es ist nicht so, dass alle Konflikte weg wären. Aber sie werden sichtbar gemacht – und das Team findet gemeinsam Lösungen. Die Atmosphäre ist leichter, sie reden wieder miteinander."
Das ist der entscheidende Punkt: Vertrauen bedeutet nicht die Abwesenheit von Konflikten. Es bedeutet die Fähigkeit, konstruktiv mit ihnen umzugehen. Teams mit hohem Vertrauen haben nicht weniger Probleme – sie lösen sie nur besser.
Ihr nächster Schritt
Vertrauen ist wie ein Muskel: Je mehr man ihn trainiert, desto stärker wird er. Und manchmal muss er erst reißen, bevor man merkt, wie wichtig er wirklich ist.
Die gute Nachricht: Vertrauen lässt sich wieder aufbauen. Es braucht Zeit, Geduld und vor allem die Bereitschaft, authentisch und verletzlich zu sein. Aber die Investition lohnt sich – für das Team, für die Ergebnisse und letztendlich für jeden Einzelnen.
Welchen ersten, kleinen Schritt gehen Sie heute?
Vielleicht ist es ein ehrliches Gespräch mit einem Teammitglied. Vielleicht das Eingestehen eines Fehlers. Oder einfach die Frage: „Wie siehst du das?" in der nächsten Besprechung.
Vertrauen entsteht nicht durch große Gesten, sondern durch kleine, alltägliche Momente der menschlichen Verbindung. Fangen Sie heute damit an.




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